Salbei, Tulpen und Kastanien

  • Anari sah auf die neue Blüte hinunter und seufzte. Dies würde ihre dritte in diesem Jahr werden und irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, das irgendwas mit ihr nicht stimmte. Schon die letzte war ihr schwerer gefallen als sonst, als es gedurft hätte.
    Was war los? Lag es an ihr?
    Sie legte die Blüte bei Seite und streckte ihre Flügel. Ihr war klar, dass sie etwas tun musste, was sie schon lange nicht mehr getan hatte:

    Sie würde sich unter die anderen Bewohner des Wilden Garten mischen müssen.

    Anari holte noch einmal tief Luft und verließ das von Rosen überwucherte Vogelhaus, um in Richtung Kräutergarten zu fliegen.

  • Ein ungewöhnlich kühler Wind fuhr durch den Wilden Garten. Es war Spätsommer und in den letzten Tagen sehr warm gewesen. Er ließ unreife Hagebutten schwanken, verteilte letzte Blütenblätter und ließ die Bewohner dieses Ortes erschauern. Dann war er genau so schnell verschwunden, wie er gekommen war. Die Hitze senkte sich wieder über den Garten und nach und nach fingen die Grillen wieder an zu zirpen...

  • Einen Moment lang hatte Anari an die Gescheckte Tulpe gedacht aber dann war ihr klar geworden, wieviele Leute dort sein würden. Zu viele! Feenscheu wie sie war sollte sie vielleicht nicht gerade damit anfangen.
    Aber wo dann?
    Während sie noch überlegte kam eine erneute frostige Böe auf und überraschte sie völlig. Sie erfasste sie, brachte sie aus dem Gleichgewicht und schleuderte sie heftig in einen alten Johannisbeerbusch.
    "Autsch", entfuhr es ihr.
    Anari brauchte eine Weile um sich zu orientieren. Sie hing kopfüber irgendwo im oberen Drittel zwischen den letzten überreifen, roten Beeren, den Blättern und Zweigen. Ihr Kleid und ihre Haare hatten sich verfangen, ihr Rücken und Arme schmerzten und ein Flügel fühlte sich komisch an, sie konnte ihn aber nicht sehen noch recht bewegen.
    'Na großartig! Was mach ich jetzt', fragte sie sich und versuchte sich zu drehen.
    "AGH-"
    Lichtblitze zuckten durch ihr Blickfeld, Schmerz färbte es rot und lies Übelkeit in ihr hoch steigen. Mühsam rang sie nach Atem.

  • Alyjosch fluchte. Allerdings aus einem ganz anderen Grund.
    Die zweite Böe hatte erneut Kirschen gelöst, die mit heftigem Getöse auf sein Haus prasselten. Hierher hätte er definitiv nicht ziehen sollen! Aber nein, er hatte wieder auf seine Mutter hören müssen, wie toll es wäre, reife Kirschen direkt vor der Tür zu haben und im Herbst die Nüsse des Haselbusches, in den es gebaut war. Er kam ja kaum zu was anderem als das Dach reparieren und Vögel und Eichhörnchen zu verjagen!
    Klar, mit Nüssen und Kirschen war er reichlich versorgt aber das änderte nichts an der ganzen unleidigen Arbeit und daran, dass der Herbst ihm jedesmal das Dach abdeckte.
    Zwack!
    "Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht fluchen sollst?" Seine Mutter funkelte ihn finster an, die Hand nach dem Schlag auf seinen Hinterkopf immer noch erhoben.
    "Oft Mutter."
    "Wohl noch nicht oft genug! Du bist jetzt 143. Ein Mann im mittleren Alter. Gut gestellt, gut gewachsen und immer noch nicht verheiratet. Und? Was glaubst du, woran das liegt?"
    Alyjosch verdrehte die Augen.
    "Oh, nein, mein Junge, komm mir nicht so! An deinen schlechten Manieren liegt das. Ooohhh, was habe ich nur falsch gemacht?!?" Theatralisch ließ sich seine Mutter in den Ohrensessel fallen.
    "Tut mir leid Mutt-"
    "Nichts tut dir leid", brauste sie auf und erhob sich fast wieder. "Wenn es das nämlich täte, dann würdest du was daran ändern!"
    "Mutter, bitte!"
    "Geh! Geh, kümmer dich um das Dach oder die Gescheckte Tulpe! Mach dir um mich, deine arme, alte Mutter, keine Gedanken! Ich will ja nur, dass es dir gut geht, aber was kümmert es dich?"
    "Mutter!"
    "Fall mir nicht ins Wort! Das ist noch so etwas, was du nie gelernt hast. Ich sorge mich um dich, versuche, dafür zu sorgen, dass es dir g-"
    "Das reicht jetzt Mutter! Ich werde mir das nicht länger anhören." Wütend stapfte er zur Tür, während seine Mutter weiter jammerte und schimpfte, was er sogar noch ein gutes Stück des Weges Richtung Salbeibusch hörte.

  • Alyjosch war kein 10 Minuten unterwegs, da hatte er das Gefühl unter den Strahlen der Sonne zu zerfließen. 'Was musst du dich auch zur heißesten Stunde des Tages aus deinem eigenen Haus jagen lassen', fluchte er innerlich. Jetzt war er allerdings hier draußen, die Luft flirrte, sein Hut hing zu Hause am Haken und zu trinken hatte er auch nichts dabei. Und fast der gesamte Weg bis zur Gescheckten Tulpe lag in der prallen Sonne. Als ihm das klar wurde fing er laut an zu fluchen. "Klasse, wirklich klasse", ich hol mir noch nen Sonnenstich! Oder nen Hitzschlag. Oder beides! Und alles nur wegen Mutter und ihren Kirschen! Wenn das so weiter geht, zieh ich aus! Ja genau, ich ziehe-" Er blieb abrupt stehen und blinzelte wie bescheuert. Sein Verstand musste längst gegrillt worden sein oder er haluzinierte. Da lief doch gerade ein Zwerg mit einem dicken Schal um den Hals an ihm vorbei, drückte etwas an die Brust und lächelte entrückt vor sich hin!
    Aber das Bild ging nicht weg, egal wie oft er sich die Augen rieb oder sich kniff. 'Okay, ist gut jetzt. Du wusstest doch schon immer, das Zwerge einen Hasch-mich haben. Geh einfach weiter!' Alyjosch rieß sich von diesem seltsamen Anblick los und wandte sich wieder der Tulpe zu. Das war nichts, das ein gutes Eichelbier nicht aus seinem Kopf spülen würde.

  • In der Gescheckten Tulpe war alles beim Alten, um diese Zeit war nicht viel los, nur der Teil der Wache, deren Schicht vor kurzem geendet hatte, war zum größten Teil hier und sie winkten Alyjosch heran.
    "Hey Aly, was machst du denn an deinem freien Tag hier? Wieder Stress mit deiner Mutter?"
    Er machte eine abwinkende Handbewegung und die anderen wechselten zu ihrem alten Thema zurück.
    Drei Eichelbier später viel ihm der Zwerg wieder ein.
    "Hey Leute, ihr glaubt nicht, was ich vorhin gesehen habe: Mir kam doch glatt ein grenzdebil dreinschauender Zwerg mit einem dicken Wollschal um den Hals entgegen. Bei der Hitze! Stellt euch das mal vor", meinte er lachend.
    Am Tisch wurde es still und die anderen sahen sich an.
    "Halt, stopp, moment!" Alyjosch hatte mit schallendem Gelächter gerechnet und kam nicht mit. "Was ist los? Das ist doch urkomisch. Oder nicht?"
    "Sag du's ihm Bertrand."
    Hauptmann Bertrand drehte sich ihm zu und atmete tief durch. "Wilhelm Kornbusch wurde heute früh überfahren. Joren Toadward beschwört, er habe ihn mehrfach angerufen und versucht von der Straße zu scheuchen als sein Karnickel wegen einer Wespe durchging. Er hab sich nicht gerührt. Der alte Kornbusch trug Handschuhe und Schal und lächelte entrückt. Wenn du da warst und uns da weiterhelfen kannst wären wir dir dankbar."
    Alyjosch sah ihn verdattert an. "Nein, nicht heute Morgen, gerade eben, ist vielleicht ne halbe Stunde her. Und der alte Kornbusch war es auch nicht. Den hätte ich erkannt."
    "Bist du sicher?"
    "Ganz sicher, auch wenn ich einen Moment dachte, ich bilde mir das wegen der Hitze ein."
    Bertrand schwieg eine Weile. "Weißt du wer das war?"
    Aly schüttelte den Kopf.
    "Dann möchte ich dich bitten, die Augen offen zu halten und uns Bescheid zu geben, wenn du ihn wiedergefunden hast. Mir gefällt das nicht."

  • Sternenfeuer genoss die Hitze auf ihren Flügeln und breitete sie noch weiter aus. Sie liebte den Sommer. Es war die einzige Zeit im Jahr, in der ihr nicht ständig kalt war. Hinter ihr war das beständige Plätschern des Brunnen auf dessen Kante sie saß. Hin und wieder spürte sie einige Tropfen der Fontäne auf ihren Flügeln. Ihre Finger fanden die Saiten mit spielerischer Sicherheit und entlockten ihrer Bağlama heitere Melodien. Sie hielt die Augen geschlossen, aber sie zu öffnen hätte für Sternenfeuer keinen Unterschied gemacht.
    Die Bardin konnte noch immer nicht glauben, dass die Zwerge und Kobolde es geschafft hatten, dass Konzept der Fontäne von den großen Leuten zu übernehmen. Die Tropfen perlten so schön auf dem Wasser und sie tanzte mit ihren Melodien um sie herum. Nur im bildlichen Sinne, denn hier Tanzen hätte sie sich ohne Roalds Anweisungen nicht getraut.
    Trotzdem warfen die Leute Münzen auf ihren Schal oder stellten ihr Teile der Ernte hin.
    Das war noch etwas, was sie am Sommer liebte: Sie brauchte nicht zu Hunger. Noch gaben die Leute freizügig.
    Sie sang und fühlte sich unendlich frei.
    Plötzlich mischte sich ein Misston in ihrer Melodie. Aber er kam von außen. Er kam über den Platz auf sie zu und erwischte sie voll. Fast hätte die frostige Böe Sternenfeuer in den Brunnen geworfen. Sie klammerte sich gerade noch rechtzeitig an die Kante und an ihre Instrument fest. Das Zittern breitete sich in ihren Gliedern aus und sie fröstelte noch immer, obwohl die Böe längst vorüber war. Vorsichtig rutschte sie von der Kante und versuchte wieder Herrin ihres eigenen Körpers zu werden.
    Was war das? So misstönend. Und so kalt. Das gehörte einfach nicht in den Sommer.
    Unsicher stimmte sie die ersten Töne eines neuen Liedes an, doch ihm fehlte der Schwung. 'Bitte, liebe Sonne, lass nicht noch so eine Böe kommen!', flehte sie stumm. Dann fing sie wieder an zu singen.

  • Als sich die Sicht der Blütenmalerin wieder klärte hatte sich nichts an ihrer Lage geändert. Glaubte sie jedenfalls. Sie wusste, sie musste zusehen, ihren Kopf wieder über ihren Körper zu kriegen aber dafür bräuchte sie mehr Bewegungsfreiheit. Gut, die Arme taten zwar weh, ließen sich aber bewegen. Das war bei ihrem Kopf nicht der Fall. Kaum das sie ihn zu drehen versuchte zog es in ihren Haaren. Wohlweißlich mied sie jegliche Bewegungen ihrer Flügel als sie anfing ihr Haar zu lösen.
    Ein schwarzes Flattern im Augenwinkel ließ sie innehalten. Jetzt war es fort.
    Nach einer kleinen Weile machte Anari weiter, wimmerte leise, als sie sich eine Strähne fast ausriss, weil sie sich nicht lösen wollte. Vielleicht sollte sie zu ihrem Messer greifen? Nein. Sie hatte ihre Haare bis jetzt nur ein einziges Mal geschnitten und sich danach grottig gefühlt und drei Wochen lang nicht an den Blüten arbeiten können. Also macht sie eine kurze Pause. Wieder war Flattern und Rascheln zu hören, näher dieses Mal und so, dass sie es nicht sehen konnte, egal wie weit sie versuchte den Kopf zu drehen. Hoffentlich war das keine Krähe...
    Hektisch machte sie weiter und trieb sich Tränen in die Augen. Eine Haarsträhne wollte sich partout nicht lösen lassen.
    Erneutes Flattern und Rascheln, dann schwankten die Zweige des Busches. Anari presste die Lippen aufeinander um nicht zu schreien und klammerte sich verzweifelt fest während erneut Schmerzen durch ihren Körper pulsierten. 'Bitte nicht, ich will nicht gefressen werden!'

  • Erneut schwankte der Busch und auch der Ast in dem Anari hing. Krampfhaft hielt sie sich fest, die Augen geschlossen und flehte zum Schicksal. Die Übelkeit kehrte zurück und es sauste in ihren Ohren. Nicht mehr lange und sie würde das Bewusstsein verlieren. Aber wahrscheinlich machte das jetzt eh keinen Unterschied mehr.
    Langsam beruhigte sich das Gezweig wieder. Ein fröhlich-fragender Dreiton erklang.
    Irritiert öffnete die Fee ihre Augen — und sah eine Amsel mit den Insignien der Wache ins Kopfgefieder geflochten sie freundlich anschauen.
    Wieder erklang der fragende Dreiton.
    "Hilfe?", flüsterte sie unsicher, "ich hänge fest?"
    Der Vogel sah sie an, tippte dann mit dem Schnabel vorsichtig gegen ihre Schulter.
    "Nein", wisperte Anari, schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Tränen stiegen ihr in die Augen. Bescheuerte Haarsträhne!
    Diesesmal war der Dreiton tiefer, mitfühlender.
    Sie deutet auf ihre Haare, zog daran, hoffte, das Tier möge sie verstehen.
    Die Amsel zwitscherte fröhlich und fing an vorsichtig den Knoten zu lösen.

  • Als Anari wieder zu sich kam lag sie in einer Art Hängematte, die es aber zuließ, dass die Flügel frei nach unten hingen. Sie fühlte sich benommen und Schwindel befiehl sie, sowie sie versuchte sich aufzusetzen. Also drehte sie nur den Kopf und war tatsächlich überrascht, dass das ging ohne das es weh tat oder hängen zu bleiben.
    Was sie sehen konnte war ein Vorhang zu ihrer Rechten und am Fußende und zu ihrer Linken ein Nachtschrank und ein Fenster durch das Blätter und ein Stück blauer Himmel zu sehen war. Wasser stand bereit aber sie fühlte sich zu matt um einen Versuch zu unternehmen etwas zu trinken.

    Eine Weile später trat eine robuste, etwas dickliche Krankenschwester mit brünettem Dutt ein, lächelte, als sie sah, dass Anari wach war und stellte das Tablett mit Essen auf den Nachtschrank.
    "Wie fühlen sie sich?"
    Die Blütenmalerin blinzelte und musste erst einmal einen Moment überlegen.
    "Erschöpft und zerschlagen. Mir ist etwas übel glaube ich", flüsterte sie.
    "Das ist kein Wunder. Jelan, die Amsel, falls sie sich fragen, hat uns erzählt, wo und wie er sie gefunden hat. Wenn sie sich etwas ausruhen wird die Übelkeit vergehen."
    Die Krankenschwester half Anari sich etwas aufzurichten und lächelte mitleidig, als sie sah, wie Anari das Gesicht verzog, als sie die Flügel bewegte.
    "Das wird etwas länger dauern, sich aber auch wieder geben. Ihr Flügel muss beim Aufprall umgeknickt worden sein. Das, und ein paar Risse, um die wir uns selbstverständlich gekümmert haben. Der Rest sind einige Schürfwunden und Prellungen. In ein paar Tagen sind sie wieder auf dem Damm."
    "Ein paar Tage?"
    "Ja, nur ein paar Tage, in denen sie ihren Flügel am besten nicht belasten. Danach sollten sie ein paar Wochen anstrengende Manöver vermeiden."
    "Ein paar Tage? Wochen?!? Aber—"
    "Kein Aber! Bis Morgen bleiben sie auf jeden Fall erstmal hier. Danach sehen wir weiter."
    "Aber ich muss zurück! Ich— Nein, ich brauche Hilfe, ich muss dringendst jemanden finden der—"
    "Nichts da! Vor Morgen werden sie dieses Bett nicht verlassen. Bis dahin ist die Hilfe, die sie jetzt brauchen sich hier zu erholen." Resolut drückte sie Anari wieder in die Kissen und gab ihr ein Glas Wasser.
    "Und jetzt wird gegessen. Ohne Nahrung wird sich ihr Körper nicht erholen."

    Später, am Nachmittag, war der Arzt erschienen und hatte sie untersucht. Auch er bestand darauf, dass sie noch eine Nacht bliebe und ließ die Blütenmalerin allein.
    Kleine Wolkenfetzen zogen am Fenster vorüber, genau wie die Gedanken in ihrem Kopf. Wo sollte sie hin? Bis jetzt war Anari davon ausgegangen, dass sie jederzeit zurück könnte und das sie die Antwort schnell fände. Nun durfte sie aber nicht mehr fliegen. Drei Tage mindestens. Und sie hatte nichts dabei, außer ein paar Malutensilien und was sich noch in ihrer Umhängetasche befunden hatte. Falls es nicht bei ihrem Sturz herausgefallen war. Auch wunderte sie sich, dass sie niemand nach ihrem Namen gefragt hatte. Aus Angst, die anderen darauf aufmerksam zu machen hatte sie sich auch selber nicht nach Namen erkundigt und es grauste ihr vor dem morgigen Tag.

  • Seltsam

    Als Roald und Minx zu ihr kamen wusste sie nicht mehr so recht, ob sie sich die Windböe nicht einfach nur eingebildet hatte.
    Trotzdem wollte ihr das Spielen nicht recht gelingen. Unbemerkt hatte sich eine tiefe, innere Unruhe in ihr breit gemacht. Ihre blinden Augen schienen etwas zu suchen, ihre Finger lagen nicht mehr ruhig auf der Bağlama und in ihre Stimme hatte sich eine unterschwellige Gejagtheit geschlichen. Auch waren ihr eher düstere Lieder in den Sinn gekommen und einmal war sie sogar mitten in einem heiteren Lied in ein trauriges gerutscht und hatte, als sie es bemerkte, aufgehört zu spielen.
    Wieso fühlte sie sich nur so einsam und kalt?
    "Sternenfeuer! Was ist? Warum spielst du nicht?"
    Irgendwie klang seine Stimme heute nicht besorgt sondern vorwurfsvoll. Minx fiepte aufgeregt an ihrer Leine und das Glöckchen der dressierten Maus klingelte ununterbrochen, als wolle sie unbedingt zu ihr hin.
    Normalerweise hätte sie ehrlich geantwortet aber sie tat es nicht.
    "Warum lässt du Minx nicht zu mir, wenn sie unbedingt will?", fragte sie stattdessen ebenfalls vorwurfsvoll.
    Der Gaukler ließ überrascht die Leine fahren, das kleine Fellknäul huschte wie ein Blitz auf sie zu und drückte sich fast schon verzweifelt an sie, fiepend und Aufmerksamkeit heischend.
    Es dauerte eine Weile, bis sie sich erweichen ließ und die Arme um Minx schloss. Kurz darauf war sie am Schluchzen und umklammerte die kleinen Dame.
    Roald starrte fassungslos auf die Szene vor sich. Wo war seine fröhliche, unbeugsame Partnerin? Was war vorgefallen? Und warum zum Aaskäfer war sie sauer auf ihn?
    Langsam ging er neben ihr in die Hocke.
    "He! Was ist denn?" fragte er sanft.
    Sternenfeuer hatte weder die Kraft noch die Worte zum Antworten sondern füllte das Fell des Mäuschen nur mit noch mehr Tränen. Als er ihr die Hand das erste Mal auf die Schulter legte zuckte sie weg, beim zweiten Mal warf sie sich in seine Arme und hielt sich verzweifelt an ihm fest.
    Etwas kleines, schwarzes kullerte unbemerkt unter den Brunnen...

    Zwei Stunden später hatten die drei sich in die Gescheckte Tulpe zurückgezogen. Roald hatte beschlossen, dass sie Heute entweder in der Tulpe selbst spielen würden oder erst später mit der Suche nach einem geeigneten Ort dafür anfangen würden. Sternenfeuer hatte sich wieder einigermaßen beruhigt und Minx schlummerte friedlich auf ihrem Schoß. Minztee dampfte vor ihnen auf dem Tisch.
    "Was war denn vorhin los? So kenne ich dich gar nicht."
    "I-ich weiß es nicht. Ich fühlte mich so alleingelassen und dann kamst du daher und machtest mir grundlos Vorwürfe—"
    "Das habe ich nicht! Ich war nur überrascht, dass ausgerechnet du dich in den Schatten des Brunnens geflüchtet hattest."
    "Aber... Für mich klang es so. Ich weiß auch nicht." Sternenfeuer faltete beschämt ihre Flügel hin und her.
    Der Gaukler seufzte.
    "Fest steht, dass ich dir keine machen wollte und du mir auch nicht. Also wenn du jetzt nichts weiter hast, was du mir dazu sagen willst, dann sind wir wieder gut. Richtig?"
    "Ja... Nein... Doch...
    Zwischen uns ja...", stammelte sie.
    "Was ist denn noch?"
    Bei seinem betrübten Tonfall sank sie noch mehr in sich zusammen.
    "Ich - es - ich weiß nicht ob ich noch spielen kann. A-alles", fuhr die junge Frau überstürzt fort, bevor der Elf irgendetwas sagen konnte, "alles was mir einfällt ist düster und ich habe Angst Aufmerksamkeit zu erregen, meine Stimme zu erheben. Es - ich - ich fühle mich die ganze Zeit beobachtet. Auch jetzt noch..."
    "Aber hier ist niemand der uns beobachtet. Die Wachmannschaft ist mit sich selbst beschäftigt und knöchelt. Teiti ist in der Küche und der alte Joren schläft an seinem Tisch."
    "Ich - ich weiß nicht. Seit ihr Beide da seit ist es nicht mehr so schlimm. Aber auf dem Markt..." Sie schauderte.
    "Ist denn irgendwas vorgefallen? Hat dich jemand belästigt?"
    "Nein, nichts. Nur... Nur dieses Gefühl, das... Das wurde immer schlimmer. Sonst war alles so wie sonst auch..."
    Krampfhaft arbeiteten ihre schlanken Finger im weichen Fell. Minx fiepte unwohl im Schlaf.
    Roald angelte sich seine Tasse und trank in kleinen Schlucken. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Wenn nichts passiert war gab es keine Ursache. Nichts gegen das sie etwas tun konnten - und sei es, dass sie ihm aus dem Weg gingen. Er seufzte.
    "Wenn du heute Nacht nicht spielen möchtest ist das in Ordnung. Und wegen Morgen schauen wir dann nach dem Schlafen. Okay?" Das war alles, was ihm dazu einfiel.
    Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder. Da war noch die Sache mit der Windböe. Nur sollte sie das sagen? Und hatte sie sich das nicht nur eingebildet? Immerhin wirkte die ganze Sache so surreal. Und warum Roald von etwas erzählen, von dem sie nicht wusste, ob sie es wirklich erlebt hatte? Ein Winterwind mitten im Sommer. Das war lächerlich. Und genau das würde Roald auch sagen. Überhaupt: Wenn war es nur ein Moment kalter Wind. Ein kurzer Luftstoß, dann nichts mehr. Und der hatte keine Augen. Da gab es keinen Zusammenhang. Warum also sollte sie ihn mit solchem Unsinn behelligen?
    "Ja", flüsterte sie erschöpft, "okay."