Seltsam
Als Roald und Minx zu ihr kamen wusste sie nicht mehr so recht, ob sie sich die Windböe nicht einfach nur eingebildet hatte.
Trotzdem wollte ihr das Spielen nicht recht gelingen. Unbemerkt hatte sich eine tiefe, innere Unruhe in ihr breit gemacht. Ihre blinden Augen schienen etwas zu suchen, ihre Finger lagen nicht mehr ruhig auf der Bağlama und in ihre Stimme hatte sich eine unterschwellige Gejagtheit geschlichen. Auch waren ihr eher düstere Lieder in den Sinn gekommen und einmal war sie sogar mitten in einem heiteren Lied in ein trauriges gerutscht und hatte, als sie es bemerkte, aufgehört zu spielen.
Wieso fühlte sie sich nur so einsam und kalt?
"Sternenfeuer! Was ist? Warum spielst du nicht?"
Irgendwie klang seine Stimme heute nicht besorgt sondern vorwurfsvoll. Minx fiepte aufgeregt an ihrer Leine und das Glöckchen der dressierten Maus klingelte ununterbrochen, als wolle sie unbedingt zu ihr hin.
Normalerweise hätte sie ehrlich geantwortet aber sie tat es nicht.
"Warum lässt du Minx nicht zu mir, wenn sie unbedingt will?", fragte sie stattdessen ebenfalls vorwurfsvoll.
Der Gaukler ließ überrascht die Leine fahren, das kleine Fellknäul huschte wie ein Blitz auf sie zu und drückte sich fast schon verzweifelt an sie, fiepend und Aufmerksamkeit heischend.
Es dauerte eine Weile, bis sie sich erweichen ließ und die Arme um Minx schloss. Kurz darauf war sie am Schluchzen und umklammerte die kleinen Dame.
Roald starrte fassungslos auf die Szene vor sich. Wo war seine fröhliche, unbeugsame Partnerin? Was war vorgefallen? Und warum zum Aaskäfer war sie sauer auf ihn?
Langsam ging er neben ihr in die Hocke.
"He! Was ist denn?" fragte er sanft.
Sternenfeuer hatte weder die Kraft noch die Worte zum Antworten sondern füllte das Fell des Mäuschen nur mit noch mehr Tränen. Als er ihr die Hand das erste Mal auf die Schulter legte zuckte sie weg, beim zweiten Mal warf sie sich in seine Arme und hielt sich verzweifelt an ihm fest.
Etwas kleines, schwarzes kullerte unbemerkt unter den Brunnen...
Zwei Stunden später hatten die drei sich in die Gescheckte Tulpe zurückgezogen. Roald hatte beschlossen, dass sie Heute entweder in der Tulpe selbst spielen würden oder erst später mit der Suche nach einem geeigneten Ort dafür anfangen würden. Sternenfeuer hatte sich wieder einigermaßen beruhigt und Minx schlummerte friedlich auf ihrem Schoß. Minztee dampfte vor ihnen auf dem Tisch.
"Was war denn vorhin los? So kenne ich dich gar nicht."
"I-ich weiß es nicht. Ich fühlte mich so alleingelassen und dann kamst du daher und machtest mir grundlos Vorwürfe—"
"Das habe ich nicht! Ich war nur überrascht, dass ausgerechnet du dich in den Schatten des Brunnens geflüchtet hattest."
"Aber... Für mich klang es so. Ich weiß auch nicht." Sternenfeuer faltete beschämt ihre Flügel hin und her.
Der Gaukler seufzte.
"Fest steht, dass ich dir keine machen wollte und du mir auch nicht. Also wenn du jetzt nichts weiter hast, was du mir dazu sagen willst, dann sind wir wieder gut. Richtig?"
"Ja... Nein... Doch...
Zwischen uns ja...", stammelte sie.
"Was ist denn noch?"
Bei seinem betrübten Tonfall sank sie noch mehr in sich zusammen.
"Ich - es - ich weiß nicht ob ich noch spielen kann. A-alles", fuhr die junge Frau überstürzt fort, bevor der Elf irgendetwas sagen konnte, "alles was mir einfällt ist düster und ich habe Angst Aufmerksamkeit zu erregen, meine Stimme zu erheben. Es - ich - ich fühle mich die ganze Zeit beobachtet. Auch jetzt noch..."
"Aber hier ist niemand der uns beobachtet. Die Wachmannschaft ist mit sich selbst beschäftigt und knöchelt. Teiti ist in der Küche und der alte Joren schläft an seinem Tisch."
"Ich - ich weiß nicht. Seit ihr Beide da seit ist es nicht mehr so schlimm. Aber auf dem Markt..." Sie schauderte.
"Ist denn irgendwas vorgefallen? Hat dich jemand belästigt?"
"Nein, nichts. Nur... Nur dieses Gefühl, das... Das wurde immer schlimmer. Sonst war alles so wie sonst auch..."
Krampfhaft arbeiteten ihre schlanken Finger im weichen Fell. Minx fiepte unwohl im Schlaf.
Roald angelte sich seine Tasse und trank in kleinen Schlucken. Er wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Wenn nichts passiert war gab es keine Ursache. Nichts gegen das sie etwas tun konnten - und sei es, dass sie ihm aus dem Weg gingen. Er seufzte.
"Wenn du heute Nacht nicht spielen möchtest ist das in Ordnung. Und wegen Morgen schauen wir dann nach dem Schlafen. Okay?" Das war alles, was ihm dazu einfiel.
Sie öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder. Da war noch die Sache mit der Windböe. Nur sollte sie das sagen? Und hatte sie sich das nicht nur eingebildet? Immerhin wirkte die ganze Sache so surreal. Und warum Roald von etwas erzählen, von dem sie nicht wusste, ob sie es wirklich erlebt hatte? Ein Winterwind mitten im Sommer. Das war lächerlich. Und genau das würde Roald auch sagen. Überhaupt: Wenn war es nur ein Moment kalter Wind. Ein kurzer Luftstoß, dann nichts mehr. Und der hatte keine Augen. Da gab es keinen Zusammenhang. Warum also sollte sie ihn mit solchem Unsinn behelligen?
"Ja", flüsterte sie erschöpft, "okay."